Reaktion der Arktis auf „Temperatur-Overshoot-Szenarien“

Die Böden der hohen nördlichen Breiten enthalten fast doppelt so viel Kohlenstoff wie die gesamte Atmosphäre, und das Schicksal dieser gefrorenen Kohlenstoffpools unter dem voranschreitenden Klimawandel ist äußerst unsicher. Zwei aktuelle Studien unter Leitung von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Meteorologie (MPI-M) befassen sich mit der Reaktion arktischer Ökosysteme auf Overshoot-Szenarien. Letztere nehmen an, dass ein gegebenes Klimaziel zunächst überschritten wird bevor die Temperatur auf dem angestrebten Niveau stabilisiert werden kann – ein Klimapfad, der immer wahrscheinlicher wird, wenn wir die globale Erwärmung auf ein wünschenswertes Maß begrenzen wollen. Philipp de Vrese, Victor Brovkin, Tobias Stacke und Thomas Kleinen fanden heraus, dass sich die Temperaturabhängigkeiten vieler terrestrischer Prozesse während der Erwärmungs- und Abkühlungsphasen eines solchen Temperatur-Overshoots deutlich unterscheiden. Außerdem zeigen sie, dass die arktischen Böden nicht nur mehrere Jahrhunderte brauchen werden, um sich an neue Klimabedingungen anzupassen, sondern auch, dass die Folgen eines Overshoots möglicherweise nicht vollständig umkehrbar sind.

Verzögerungen bei der Reduzierung anthropogener Kohlenstoffemissionen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass das langfristige Ziel des Pariser Abkommens, die globale Erwärmung auf deutlich weniger als 2°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, vorübergehend überschritten wird. Die Reaktion der Ökosysteme in den hohen Breiten spielt dabei eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung des Klimas. Der größte Teil der riesigen, arktischen Bodenkohlenstoffpools befindet sich in Permafrost-Regionen (Regionen mit dauerhaft gefrorenen Böden), wo sie aufgrund steigender Temperaturen zunehmend anfällig für biotische Zersetzungsprozesse werden. Gleichzeitig steigern längere und wärmere Sommer die Produktivität der Pflanzen, was die terrestrische Kohlenstoffaufnahme in der Arktis erhöht. Der Nettoeffekt dieser gegenläufigen Feedbacks ist höchst ungewiss, aber es wird angenommen, dass sich die Arktis innerhalb diesen Jahrhunderts von einer Senke für atmosphärisches CO2 in eine Kohlenstoffquelle wandeln wird. In Anbetracht unserer aktuellen Treibhausgasemissionen und wie nah wir bereits an einer 1,5°C-Erwärmung sind, entschieden die Autoren aber, dass es nicht ausreicht reine Erwärmungsszenarien zu betrachten: "Wir haben uns gefragt: Was wird passieren, wenn auf die Erwärmungs- eine Abkühlungsphase folgt, um die globalen Temperaturen auf ein nachhaltigeres Niveau zurückzubringen? Es schien, als wüsste niemand so genau, wie die Arktis reagieren wird, falls wir Temperaturen senken müssen, um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen."

Anhand von Simulationen mit JSBACH, dem Landoberflächenmodell des MPI-M, zeigen die Forscher, dass die langsame Vegetationsdynamik, lange Kohlenstoffumschlagszeiten und hohe Bodenwassergehalte in Permafrost-Regionen zu einer großen Trägheit führen, die ein hystereseartiges Verhalten der arktischen Landoberflächenprozesse verursacht. Insbesondere die Methanemissionen unterscheiden sich dabei stark zwischen der Erwärmungs- und der Abkühlungsphase eines Temperaturüberschwungs (Abb. 1). Dies liegt auch daran, dass die CH4-Flüsse nicht nur von der Verfügbarkeit von abbaubarem Material abhängen, sondern auch von Veränderungen in der Ausdehnung und Lage von Feuchtgebieten beeinflusst werden, welche auf eine vorübergehende Erwärmung der Arktis zurückzuführen sind. Infolgedessen können die hohen nördlichen Breiten entweder eine Senke oder eine Quelle für atmosphärisches CH4 darstellen, je nachdem, ob die Temperaturen steigen oder sinken.

In einem zweiten Schritt untersuchten die Autoren dann die Gleichgewichtszustände der terrestrischen Arktis, die sich einstellen, wenn ein stationäres Klima auf verschiedenen Klimapfaden erreicht wird.  Sie zeigen, dass das hystereseartige Verhalten, das in der ersten Studie gefunden wurde, kein vorübergehendes Phänomen darstellen, sondern dass Temperatur-Overshoots teilweise zu irreversiblen Veränderungen in Ökosystemen der hohen Breiten führen könnten (Abb. 2). Multiple positive Rückkopplungen zwischen arktischen Kohlenstoff-, Wasser- und Energiekreisläufen führen dazu, dass der stationäre Zustand der Böden teilweise durch den Gehalt an organischer Substanz bestimmt wird, welcher zum Zeitpunkt der Klimastabilisierung vorlag. Letzterer hat einen starken Einfluss auf die hydrologischen und thermischen Eigenschaften des Bodens, so dass Overshoots die Randbedingungen verändern können, unter denen die physikalischen und biophysikalischen Bodenprozesse ablaufen. Die Autoren schlussfolgern: "Wir waren uns bewusst, dass arktische Böden ein hystereseartiges Verhalten zeigen können, aber wir hatten nicht erwartet, dass es mehrere stabile Ökosystemzustände unter denselben Klimabedingungen gibt. Diese Multi-Stabilität ist eine ziemliche Überraschung und scheint ein einzigartiges Merkmal von Permafrost-beeinflussten Regionen zu sein. Es wird sehr spannend sein, herauszufinden, ob und wie dies mit abrupten Veränderungen zusammenhängt die auftreten könnten, wenn der führende Zustand verloren geht“.

Originalveröffentlichungen:

de Vrese, P., Stacke, T., Kleinen, T., & Brovkin, V. (2021) Diverging responses of high-latitude CO2 and CH4 emissions in idealized climate change scenarios. The Cryosphere, 15, 1097-1130. doi: 10.5194/tc-15-1097-2021
de Vrese, P. & Brovkin, V. (2021) Timescales of the permafrost carbon cycle and legacy effects of temperature overshoot scenarios. Nature Communications. doi: 10.1038/s41467-021-23010-5

Kontakt:

Dr. Philipp de Vrese
Max-Planck-Institut für Meteorologie
E-Mail: philipp.de-vrese@we dont want spammpimet.mpg.de

Prof. Victor Brovkin
Max-Planck-Institut für Meteorologie & Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit, Universität Hamburg
E-Mail: victor.brovkin@we dont want spammpimet.mpg.de

Dr. Thomas Kleinen
Max-Planck-Institut für Meteorologie
E-Mail: thomas.kleinen@we dont want spammpimet.mpg.de

Dr. Tobias Stacke
Helmholtz-Zentrum Hereon
E-Mail: tobias.stacke@we dont want spamhereon.de

Duvanni Yar, Sibirien / Credit: Martin Heimann