Konzeptionelle Modellierung am MPI-M

Das Max-Planck-Institut für Meteorologie (MPI-M) entwickelt komplexe Erdsystem- und Klimamodelle. Zur Untersuchung und zum Verständnis von Prozessen arbeiten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in vielfältiger Weise auch mit sogenannten konzeptionellen Modellen.

Das Max-Planck-Institut für Meteorologie (MPI-M) ist weltweit bekannt für die Entwicklung globaler gekoppelter Klima- und Erdsystemmodelle. Diese Modelle sind sehr komplex und umfassen alle wichtigen Komponenten des Klimasystems: Atmosphäre, Ozean, Land und Eis sowie biogeochemische Stoffkreisläufe wie z.B. den Kohlenstoffkreislauf. Hervorzuheben ist, dass alle Modellkomponenten am MPI-M entwickelt werden.

Zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen entwickeln und benutzen viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des MPI-M jedoch auch konzeptionelle Modelle. Sie dienen der Entwicklung von Theorien, ihrer Überprüfung oder als pädagogisches Hilfsmittel, um Prozesse oder Phänomene zu verstehen. Konzeptionelle Modelle sind stark vereinfachte Modelle. Sie helfen, Zusammenhänge und Prozesse in der Natur und in den komplexen Erdsystemmodellen, zu untersuchen. In einem konzeptionellen Modell wird versucht, ein physikalisches System zu vereinfachen und so auf seine fundamentalen Prozesse zu reduzieren, dass es die Essenz des Systems beschreibt.

Ein Beispiel: Katherine Fodor, Doktorandin in der Max-Planck-Forschungsgruppe „Turbulente Mischungsprozesse im Erdsystem“, untersucht, wie sich die atmosphärische Grenzschicht tagsüber verhält. Die Grenzschicht kann durch viele Dinge beeinflusst werden, aber um die Schlüsselprozesse von Konvektion und „Entrainment“ zu untersuchen, benutzt sie ein konzeptionelles Modell.  In diesem konzeptionellen Modell wird die Grenzschicht als turbulente Strömung über einer glatten Oberfläche dargestellt, die von unten erwärmt wird und in eine stabil geschichtete Umgebung hineinwächst. Anders als in komplexen Erdsystemmodellen, in denen die Turbulenz parametrisiert ist, kann in ihrem vereinfachten Modell explizit aufgelöst werden. Eine Parametrisierung der Turbulenz ist eine unzulängliche Beschreibung der realen Physik der turbulenten Flüsse in der Grenzschicht. In Katherine Fodors konzeptionellem Modell werden die bestimmenden Strömungsgleichungen numerisch gelöst, und es werden alle Skalen der turbulenten Bewegung bestimmt. Damit werden die Unsicherheiten, die durch Parametrisierungen entstehen, beseitigt. Somit kann Katherine Fodor kleinskalige Prozesse nahe an der Erdoberfläche und in der Einströmungszone untersuchen; diese sind für die Entwicklung der Grenzschicht wichtig. Diese Erkenntnisse wären unmöglich aus einem komplexen Erdsystemmodell zu gewinnen.

Dieses Beispiel zeigt eine Anwendung der konzeptionellen Modelle. Eine Vereinfachung dieser Art ist quasi eine „Notlösung“, um sich einem Prozessverständnis zu nähern. Diese Herangehensweise der Vereinfachung ist grundsätzlich eine gute Strategie, um sich Forschungsfragen zu nähern. Konzeptionelle Modelle sind immer spezifisch auf eine bestimmte Problemstellung zugeschnitten. Weitere Beispiele aus den drei Abteilungen des MPI-M „Atmosphäre im Erdsystem“, „Ozean im Erdsystem“ und „Land im Erdsystem“ zeigen im Folgenden die Vielfalt der Anwendung konzeptioneller Modelle.

Ann Kristin Naumann zum Beispiel, Gruppenleiterin in der Abteilung „Atmosphäre im Erdsystem“, hat ein vereinfachtes Modell entwickelt, das dabei hilft zu verstehen, wie Unterschiede in der Strahlungsabkühlung in den unteren Schichten der Atmosphäre flache Zirkulationen antreiben können. Es wird angenommen, dass diese flachen Zirkulationen für die Organisation von flacher und hochreichender Konvektion in den Tropen wichtig sind. In dem konzeptionellen Modell werden die Schlüsselcharakteristika der unteren Schicht der Atmosphäre (1-2 km) und der flachen Cumulus-Wolken in der Passatregion, wie Wolkenuntergrenze und mittlere Niederschlagsmenge, dargestellt. Ann Kristin Naumann zeigt mit ihrem Modell, dass flache Zirkulationen sowohl von Strahlungsunterschieden als auch von Unterschieden in der Oberflächentemperatur angetrieben werden können. Letztere war bisher die dominierende Erklärung dafür, wie Wärmemuster der Meeresoberfläche die Lage und Stärke von hochreichender Konvektion beeinflussen. Das bedeutet, dass die Strahlungseffekte von Wasserdampf in der unteren Troposphäre eine sehr aktive Rolle in der gekoppelten Dynamik der Tropen spielen.

In diesem Beispiel isoliert Ann Kristin Naumann also auch wieder die Schlüsselprozesse des zu untersuchenden Systems, was in dieser Art in den komplexen Erdsystemmodellen nicht möglich ist. Sobald ein passendes konzeptionelles Modell formuliert ist, kann mit diesem reduzierten Satz von Gleichungen die Reaktion des Systems auf verschiedene Bedingungen analysiert werden. In diesem speziellen Fall konnte Ann Kristin Naumann erklären, warum es ohne die mesoskalige Organisation konvektiver Wolken sehr unwahrscheinlich ist, dass weitläufige Gebiete über den tropischen Ozeanen wolkenfrei sind. Sie zeigt auch, wie eine strahlungsgetriebene flache Zirkulation in der Lage ist, Konvektion in kälteren Gebieten zu unterdrücken und in wärmeren zu verstärken.

Sally Dacie wiederum, Doktorandin in der Abteilung „Atmosphäre im Erdsystem“ untersucht mit Hilfe eines konzeptionellen Modells die tropische Tropopause, also die Grenzschicht zwischen der Troposphäre und der darüber liegenden Stratosphäre. Die tropische Tropopause ist kälter als die Troposphäre darunter und die Stratosphäre darüber, was sie teilweise empfindlich gegenüber Änderungen in der atmosphärischen Zusammensetzung macht. Zusätzlich wird sie durch die Dynamik in beiden Bereichen, Konvektion in der Troposphäre und großräumiges Aufquellen in der Stratosphäre, beeinflusst. Da die komplexen Erdsystemmodelle die Entwicklung dieser Schicht nicht übereinstimmend vorhersagen können, ist auch hier der Ansatz, ein konzeptionelles Modell zu entwickeln, um die Rolle einiger verschiedener Faktoren zu verstehen. Das konzeptionelle Modell, das Sally Dacie zusammen mit Lukas Kluft (Doktorand der Universität Hamburg, International Max Planck Research School) entwickelt, ist ein eindimensionales Strahlung-Konvektion-Gleichgewichtsmodell. Es simuliert die tropische Atmosphäre in einer einzelnen Säule vom Boden aufwärts. Die beiden Hauptprozesse in diesem Modell sind der Strahlungstransfer und eine einfache Konvektionsanpassung, die Energie von der Oberfläche nimmt und damit die Troposphäre erwärmt. Mit diesem Modell untersucht sie verschiedene einfache Annahmen zur Konvektion, und wie verschiedene Gase (Ozon, CO2 und Wasserdampf) die tropische Tropopause beeinflussen.

Martin Claußen, Direktor und Leiter der Abteilung „Land im Erdsystem“, interessierte vor Jahren die Frage, warum die Sahara vor 6000 Jahren grün war und keine Wüste wie heute. Auf dem Weg zur Klärung dieser Frage nutzte er neben Modellen mittlerer Komplexität und den noch komplexeren Klimamodellen ebenfalls ein konzeptionelles Modell, um die Interaktion von Atmosphäre und Vegetation in subtropischen Wüsten zu untersuchen. In ersten Überlegungen setzte er zunächst induktiv einzelne Parameter ins Verhältnis, um bestimmte Prozesse zu untersuchen. Zum Beispiel die Ausbreitung von Vegetation in Abhängigkeit vom Niederschlag bzw. Niederschlag in Abhängigkeit von der Ausbreitung der Vegetation. Das von Brovkin, Claußen et al. entwickelte Modell stellt mehrfache stabile Zustände im System dar: ein „Wüstengleichgewicht“ mit wenig Niederschlag und ohne Vegetation und ein „grünes“ Gleichgewicht mit genügend viel Niederschlag und einer dauerhaften Vegetationsbedeckung (Brovkin et al., 1998). Das konzeptionelle Modell wurde angewendet, um die Ergebnisse von zwei Klima-Vegetationsmodellen zu erklären: von einem komplexen gekoppelten Atmosphäre-Biom-Modell und von einem einfachen Box-Modell. In beiden Anwendungen kamen nämlich zwei stabile Zustände für die westliche Sahara für das gegenwärtige Klima heraus, für die Zeit des Holozäns gab es jedoch nur ein grünes Gleichgewicht. Letzteres passte gut zu den Annahmen aus Paläo-Rekonstruktionen des Klimas der Sahara und ihrer Vegetation. Weiterhin konnte nachgewiesen werden, dass das Wüstengleichgewicht für das heutige Klima wahrscheinlicher ist als das grüne Gleichgewicht, was zum heutigen Wüstenklima der Sahara passt. Insbesondere konnten die Autoren mit dem konzeptionellen Modell vorhersagen, dass sich die Sahara vor einigen tausend Jahren hatte rasch ausbreiten müssen. Dies wurde wiederum durch Rechnungen mit dem Erdsystemmodell des MPI-M (MPI-ESM) bestätigt. Tatsächlich weisen einige später entdeckte paläoklimatische Befunde auf ein rasches Ende der sogenannten „grünen Sahara“ vor einigen tausend Jahren hin (Claussen et al., 2017).

In der Abteilung „Ozean im Erdsystem“ werden konzeptionelle Modelle zum Verständnis der Atlantischen Umwälzbewegung (AMOC – Atlantic Meridional Overturning Circulation) angewendet. Die generelle Absicht konzeptionelle Modelle in der Ozeanographie zu nutzen, unterscheidet sich nicht von der Nutzung in der atmosphärischen Wissenschaft. Tim Rohrschneider zum Beispiel untersucht zurzeit die globale Meridionale Umwälzbewegung über beide Hemisphären hinweg und versucht die Stärke des nordwärts gerichteten Transportes abzuschätzen. Dabei konzentriert er sich auf den oberen Strömungszweig der AMOC. Nach der eher diagnostischen Auswertung von Ergebnissen aus komplexen Modellen, wendet er im nächsten Schritt konzeptionelle Modelle an, um den Zusammenhang zwischen der Stärke der meridionalen Strömung und verschiedenen Parametern wie der Tiefe der maximalen Umwälzung zu untersuchen. Die Abschätzung erfolgt über einzelne Gleichungen, die einen Satz von Parametern bzw. Variablen in Beziehung setzen, wie zum Beispiel die Dicke der Pyknokline (Übergang zwischen Wasserschichten unterschiedlicher Dichte) und die meridionalen Dichtegradienten. Auf diese Weise wird die Komplexität stark reduziert und die Änderungen in der AMOC können aus dem Zusammenspiel der Parameter bzw. Variablen abgeleitet und verstanden werden. Besonders geeignet als konzeptionelle Modelle sind einfache Box-Modelle. Sie sind sehr beliebt, um ein allgemeines Verständnis für beispielsweise die horizontale Zirkulation zwischen zwei Gebieten zu verstehen. Berühmt ist das Box-Modell von Stommel, mit dem ganz allgemein die thermohaline Zirkulation erklärt werden kann, die der AMOC zugrunde liegt.

Jochem Marotzke, Direktor am MPI-M und Leiter der Abteilung „Ozean im Erdsystem“ hat sich schon vor 30 Jahren (u.a. in seiner Dissertation) mit dem Box-Modell von Stommel beschäftigt und dieses in eigenen Arbeiten weiterentwickelt und vereinfacht. Er hat damit das Verständnis der AMOC entscheidend mitgeprägt (z.B. Marotzke, 2000). Neben der Strategie, über konzeptionelle Modelle Forschungsfragen bzw. Zusammenhänge zu erklären und zu verstehen, schätzt er die konzeptionellen Modelle auch als pädagogisches Hilfsmittel in der Lehre. So basieren seine Vorlesungen zur Klimadynamik weniger auf der Strömungsdynamik, als vielmehr auf den Erkenntnissen, die sich aus einfachen konzeptionellen Modellen gewinnen lassen. 

Fazit

Konzeptionelle Modelle helfen, Prozesse und Zusammenhänge zu verstehen. Sie sind Vereinfachungen von komplexeren Vorgängen und umfassen die essentiellen Parameter und Gleichungen, die für den Erkenntnisgewinn notwendig sind. Die Vereinfachung des physikalischen Systems auf die entscheidenden Parameter oder Prozesse setzt eine große  intellektuelle Leistung voraus, denn für die Simplifizierung der Prozessstudien müssen im Vorfeld Zusammenhänge gut verstanden sein, damit man die entscheidenden Fragen stellen kann, die mit einem konzeptionellen Modell gelöst werden sollen. Damit sind erkenntnistheoretisch konzeptionelle Modelle anspruchsvoller und herausfordernder als komplexe Modelle. Die Schwierigkeit liegt häufig darin, dass eine Überprüfbarkeit der Güte eines konzeptionellen Modells sehr schwierig ist, da es so weit von der komplexen Realität entfernt ist. Dies führt gelegentlich bei Publikationen zu nachteiliger Bewertung der Gutachter, die eventuell eine unzulässige Simplifizierung konstatieren. Nichtsdestotrotz sind konzeptionelle Modelle eine hervorragende Strategie, um Forschungsfragen auf den Grund zu gehen.

Publikationen

Brovkin, V., M. Claussen, V. Petoukhov, A. Ganopolski (1998) On the stability of the atmosphere-vegetation system in the Sahara/Sahel region. Journal of Geophysical Research, 103 (D24), 31613-31624. doi: 10.1029/1998JD200006

Claussen, M., Dallmeyer, A., Bader, J. (2017) Theory and Modeling of the African Humid Period and the Green Sahara. Oxford Research Encyclopedia of Climate Science. doi: 10.1093/acrefore/9780190228620.013.532

Marotzke,J. (2000) Abrupt climate change and thermohaline circulation: Mechanisms and predictability. PNAS, 97 (4), 1347-1350.

Naumann, A. K., B. Stevens, C. Hohenegger, J.-P. Mellado (2017) A conceptual model of a shallow circulation induced by prescribed low-level radiative cooling. Journal of the Atmospheric Sciences, 74, 3129-3144. doi: 10.1175/JAS-D-17-0030.1

Kontakt

Prof. Dr. Jochem Marotzke
Max-Planck-Institut für Meteorologie
Tel.: 040 41173 311 (Assistentin Kornelia Müller)
E-Mail: jochem.marotzke@we dont want spammpimet.mpg.de

Prof. Dr. Martin Claußen
Max-Planck-Institut für Meteorologie
Tel.: 040 41173 226 (Assistentin Sylvia Houston)
E-Mail: martin.claussen@we dont want spammpimet.mpg.de

Dr. Ann Kristin Naumann
Max-Planck-Institut für Meteorologie
Tel.: 040 41173 239
E-Mail: ann-kristin.naumann@we dont want spammpimet.mpg.de

Katherine Fodor
Max-Planck-Institut für Meteorologie
Tel.: 040 41173 207
E-Mail: katherine.fodor@we dont want spammpimet.mpg.de

Sally Dacie
Max-Planck-Institut für Meteorologie
Tel.: 040 41173 388
E-Mail: sally.dacie@we dont want spammpimet.mpg.de

Tim Rohrschneider
Max-Planck-Institut für Meteorologie
Tel.: 040 41173 162
E-Mail: tim.rohrschneider@we dont want spammpimet.mpg.de