Auffinden von Attraktoren dynamischer Systeme über Wiederholungen
Konzeptionelle Modelle, die zum Beispiel die Dynamik von physikalischen, biologischen, chemischen oder auch sozialen Systemen beschreiben, können durch sogenannte ‚dynamische Systeme‘ mit Hilfe von Differentialgleichungen kompakt dargestellt werden. Die meisten dieser Modelle zeichnen sich durch Multistabilität aus, was bedeutet, dass das Modell mehrere verschiedene langfristige Zustände (formal als Attraktoren bezeichnet) aufweist. In welchem dieser Attraktoren das Modell landet, hängt eindeutig von seinem Anfangszustand ab. Bei multistabilen Systemen ist es daher wichtig, sowohl alle Attraktoren im System identifizieren zu können als auch abzubilden, welche Anfangsbedingungen zu welchem Attraktor führen (formal als "basin of attraction" bezeichnet). Datseris und Wagemakers haben einen Algorithmus entwickelt, der die Attraktoren und ihre Einzugsgebiete für jedes dynamische System finden kann. Bahnbrechend an dieser Arbeit ist, dass sie nur die Definitionsgleichungen des dynamischen Systems benötigt. Die Implementierung der Methode wurde direkt als Teil einer international anerkannten Software-Bibliothek für dynamische Systeme veröffentlicht, die es Wissenschaftler*innen ermöglicht, diesen Algorithmus mit nur 10 Zeilen Code zu nutzen.
In der Klimawissenschaft lernt man in Studien über die komplett vergletscherte Erde („Snowball Earth") und die Eiszeitzyklen der Erdgeschichte etwas über multistabile Zustände. Ein einfaches Modell, das die Existenz von zwei Zuständen der Erde - einem Schneeball und einem wie heute - erfasst, lässt sich wie folgt beschreiben
was lediglich bedeutet, dass die Albedo des Planeten mit der Temperatur abnimmt, d. h. 0,7 bei -20 °C beträgt und 0,3 bei 0 °C. Dieses Modell hat nur eine einzige Variable, und daher ist es recht einfach, seine Attraktoren und ihre Einzugsgebiete zu identifizieren. Wenn das Modell mit einer Anfangstemperatur von weniger als 250 K beginnt, konvergiert es immer zu einer Endtemperatur von 230 K (Schneeball-Erde). Liegt die Anfangstemperatur über 250 K, konvergiert das Modell immer zu 288 K (heute). Die Realität ist natürlich viel komplizierter. Zum Beispiel haben Gelbrecht et. al. (2021) das obige Modell erweitert, um auch eine räumliche Komponente der atmosphärischen Advektion und Dissipation einzubeziehen. In diesem Fall ist es viel schwieriger, "von Hand" abzuschätzen, welches die Attraktoren des Systems sind, und praktisch unmöglich, ihre Einzugsgebiete abzuschätzen.
An dieser Stelle kommt die Methode von Datseris und Wagemakers ins Spiel, die den Prozess automatisieren kann. Die Methode macht sich eine der grundlegendsten Aussagen der Theorie dynamischer Systeme zunutze: der Wiederkehrsatz von Poincaré. Es besagt, dass das System, während es sich auf einem Attraktor befindet, früher oder später zu der Position zurückkehren wird, die es vor einiger Zeit hatte. Die Methode findet diese Wiederholungen und identifiziert mit Hilfe weiterer interner Logik die Attraktoren und ihre Einzugsgebiete.
Da die Methode als Open Source Code verfügbar ist, hier ein Beispiel dafür, wie man die Attraktoren und ihre Einzugsgebiete mit dem folgenden Julia-Code-Ausschnitt berechnen würde:
Originalveröffentlichung:
Datseris, G. and A. Wagemakers (2022) Effortless estimation of basins of attractions. Chaos 32. https://doi.org/10.1063/5.0076568
Literaturhinweis:
Gelbrecht, M., Lucarini, V., Boers, N. et al. (2021) Analysis of a bistable climate toy model with physics-based machine learning methods. Eur. Phys. J. Spec. Top. 230, 3121–3131 (2021). doi.org/10.1140/epjs/s11734-021-00175-0
Kontakt:
Dr. George Datseris
Max-Planck-Institut für Meteorologie
E-Mail: george.datseris@ mpimet.mpg.de