Projekt Retrograde — Stellen Sie sich vor, die Erde würde sich rückwärts drehen

Die Rotation der Erde prägt unser Klimasystem auf unterschiedliche Art und Weise: Sie steuert die Hauptwindrichtungen, beeinflusst die Wettersysteme und erzeugt zusammen mit der Topografie starke Meeresströmungen. Viele weitere Merkmale des Klimasystems, wie die Monsunsysteme und die Meridionale Umwälzbewegung im Ozean, entstehen durch komplexe Wechselwirkungen innerhalb des Klimasystems, deren Abhängigkeit von der Topografie schwer zu bestimmen ist. Um besser zu verstehen, welche Auswirkungen Topografie und Erdrotation auf das Klima haben, hat ein Team von Wissenschaftler*innen Simulationen mit dem Erdsystemmodell des Max-Planck-Instituts für Meteorologie (MPI-ESM) durchgeführt und analysiert, bei denen die Rotation der Erde umgekehrt wurde. Diese Umkehrung entspricht der Erstellung eines Spiegelbildes der Topografie. Während dabei alle wichtigen Eigenschaften, wie die Größe von Kontinenten und Ozeanbecken, erhalten bleiben, werden gleichzeitig sehr unterschiedliche Bedingungen für die Wechselwirkungen zwischen Topografie, Wettersystemen und Meeresströmungen geschaffen.

Da die Wechselwirkungen alle Bereiche des Klimasystems betreffen, bündelt ein buntgemischtes Team von 20 Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für Meteorologie (MPI-M), des Deutschen Klimarechenzentrums und der Universitäten Hamburg und Reading seine Expertise aus allen Bereichen des Klimasystems, um die Simulationen zu analysieren. Die von ihnen beobachteten Veränderungen im Klimasystem haben sie teilweise erwartet, teilweise waren sie jedoch überraschend. Die Wissenschaftler*innen bereiten die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse vor und zeigen die Veränderungen des Klimasystems auch in einer Reihe von Grafik- und Animationsvideos.

Simulationen

Die Erdrotation beeinflusst das Klima in zweierlei Hinsicht: Sie bestimmt den scheinbaren Lauf der Sonne um die Erde und den sogenannten Coriolis-Effekt, der Bewegungen in einem rotierenden System ablenkt. Eine der größten Herausforderungen bei der Simulation einer gegenläufig drehenden Erde mit einem globalen Klimamodell ist es, den Gleichgewichtszustand des Systems zu erreichen. Simulationen von mehreren tausend Jahren sind notwendig, um die zeitlichen Veränderungen in der Tiefsee auf ein möglichst geringes Maß zu reduzieren. Mit den Standardeinstellungen von Klimamodellen würde dies mehrere Monate bis Jahre dauern. Um die Simulationen zu beschleunigen, wird in dieser Studie daher das MPI-ESM in einer groben Auflösung verwendet. Die Wissenschaftler*innen führten zwei Experimente mit unterschiedlichen Rotationsrichtungen der Erde unter vorindustriellen Klimabedingungen durch: eines für die normale Drehrichtung unserer Erde (im Folgenden CNTRL genannt) und eines für die gegenläufige (retrograde) Drehung (im Folgenden RETRO genannt).

Klimaeigenschaften einer gegenläufig rotierenden Erde

Die globalen Mittel sollten im Prinzip nicht direkt von einer Umkehr der Drehrichtung betroffen sein, aber Rückkopplungen zwischen verschiedenen Klimaprozessen können dennoch zu Mittelwertänderungen führen. In den Simulationen ändern sich die globalen Mittel der wichtigsten Größen nur geringfügig und die globale Mitteltemperatur in RETRO liegt nur 0,18°C unter dem Wert in CNTRL. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet das global integrierte Wüstengebiet. Die gegenläufig drehende Welt ist grüner, die globale Wüstenfläche von etwa 42 Mio. km2 verringert sich auf etwa 31 Mio. km2. Die eine Hälfte der ehemaligen Wüstenfläche ist mit Wald bewachsen, die andere Hälfte mit Gras. Dementsprechend speichert die retrograd drehende Erde in ihrer Landvegetation mehr Kohlenstoff. Noch drastischere Veränderungen wirken sich auf die Klimamuster aus. Einerseits sind dies Veränderungen, die sich direkt aus der Umkehrung des Coriolisparameters ergeben, wie die Umkehrung der atmosphärischen und ozeanischen Zirkulationsmuster, andererseits Veränderungen, die sich aus Wechselwirkungen im Klimasystem ergeben. Zu Letzteren zählen vor allem die Reorganisation der intertropischen Konvergenzzone (ITCZ), eine Verschiebung der Tiefenwasserbildung vom Nordatlantik in den Nordpazifik, drastische Veränderungen in der Artenzusammensetzung des Planktons im Indischen Ozean und eine Verlagerung der Wüsten.

Oberflächentemperaturen für CNTRL (links) und RETRO (rechts). In den Tropen spiegelt sich der Tagesgang der Sonne in Temperaturpulsen, die in CNTRL von Osten nach Westen und in RETRO von Westen nach Osten laufen. In Nordamerika und Eurasien variieren die Effekte mit den Jahreszeiten. Im Sommer ist der Tagesgang stark, im Winter nur schwach sichtbar. Die Temperaturen werden von den Wettersystemen dominiert. Diese folgen in CNTRL den vorherrschenden Westwinden. In RETRO herrschen Ostwinde vor und die Wettersysteme laufen von Osten nach Westen.

Direkte Auswirkungen einer retrograden Rotation

Eine Folge, die schon im Voraus von den Wissenschaftler*innen erwartet wurde, ist die Umkehrung der breitengradparallelen Windmuster, die zu östlichen Jets und westlichen Passatwinden führt. Aufgrund der umgekehrten Winde in RETRO werden die Kontinente in den Subtropen und mittleren Breiten an ihren westlichen Rändern kälter und an den östlichen Rändern wärmer (siehe Abb. 1). Am deutlichsten geschieht dies über Eurasien mit einer starken Abkühlung im Winter über Nordwesteuropa.

Video 2: Meeresströmungsgeschwindigkeiten in CNTRL (links) und RETRO (rechts). Die Randströme wechseln von den westlichen Seiten der Becken in CNTRL zu den östlichen Seiten in RETRO.

Ähnlich wie bei den Winden, kehrt sich auch die Richtung der Ozeanwirbel um und die westlichen Randströmungen, wie der Golfstrom, verlagern sich zu den östlichen Seiten der Ozeanbecken (Video 2). In den Subtropen führt dies zu einer allgemeinen Erwärmung am östlichen Rand des Ozeans und zu einer Abkühlung auf der westlichen Seite. Der Indische Ozean übernimmt die Rolle des tropischen Ostpazifiks mit starkem Auftrieb von kaltem Tiefenwasser und starker Oberflächenkühlung.

Dieser Auftrieb stellt für Phytoplankton (Algen) eine wichtige Nährstoffquelle, z. B. Nitrat und Phosphor, dar. Daher spiegeln sich Veränderungen von Ozeanströmungen auch in der Biogeochemie wider, etwa in der Lage der Regionen mit  hoher biologischer Produktion. Im Gegensatz zu unserer Erde finden sich in RETRO Hochproduktionszonen auf den Westseiten der Ozeanbecken, während die zonalen Mittelwerte weitgehend unverändert bleiben.

Auswirkungen klimatischer Wechselwirkungen

Monsunsysteme

Video 3: Niederschlag in CNTRL (links) und RETRO (rechts). In den Tropen pulsieren starke Konvektionssysteme auf täglicher Skala. Der Jahresgang verschiebt sie im Sommer nach Norden und im Winter nach Süden. In RETRO reichen sie im Sommer bis in die Sahara und verwandeln diese in einen Wald. In den mittleren Breiten folgen die Tiefdruckgebiete den dominierenden Windsystemen. Die Winde treiben die Tiefdruckgebiete in CNTRL von Westen nach Osten, und in RETRO von Osten nach Westen.

Die veränderte Drehung der Erde geht mit einer starken Reorganisation der ITCZ einher (Abb. 1, Video 3). Während der stärkste Niederschlag in CNTRL im und um den warmen Bereich des Monsuns in Asien und Australien zentriert ist, verändert er sich in RETRO zu einer dreipoligen Struktur mit Zentren im östlichen tropischen Atlantik, dem zentralen Pazifik und einer Monsunregion im Nahen Osten. Diese Verschiebung der ITCZ ist eine Reaktion auf die Verschiebungen von stehenden Wirbeln und auf Änderungen der Ozeanzirkulation. 

Meridionale Umwälzbewegung des Ozeans

Ein weiterer markanter Unterschied zwischen RETRO und CNTRL ist der Zusammenbruch der Atlantischen Meridionalen Umwälzzirkulation (AMOC) in RETRO (Abb. 2), mit nur sporadischer Bildung von tiefem Zwischenwasser im Nordatlantik. Letzteres widerspricht einer früheren Studie [1].
Stattdessen entsteht im Pazifik eine Zelle mit starker Umwälzbewegung, die sogenannte pazifische meridionale Umwälzzirkulation. Diese weist eine ähnliche Struktur wie die AMOC auf, ist in ihrer Intensität jedoch etwas stärker.

Der Zusammenbruch der AMOC und der damit verbundene Rückgang des meridionalen Wärmetransports führen zu einer Abkühlung des Nordatlantiks, verbunden mit einer südlichen Ausdehnung des Meereises, und einer signifikanten Abkühlung über Europa (Abb. 1, Video 1). Die einhergehende Südverschiebung des Temperaturmaximums über dem tropischen Atlantik trägt zur Südverschiebung der atlantischen ITCZ bei (Abb. 2). Im Gegensatz dazu führt die pazifische Umwälzbewegung in RETRO, die durch einen verstärkten Wärmetransport nach Norden entlang der Westküste Nordamerikas gekennzeichnet ist, zu einer signifikanten Erwärmung des Nordpazifiks (Abb. 1 für die Erwärmung, Video 2 für die Strömungen). Die Umkehr der atmosphärischen Zirkulation führt dazu, dass diese Wärmeanomalie in die östlichen Teile Russlands hineingetragen wird.

Phytoplankton

Die Veränderungen der Ozeanzirkulation im Indischen Ozean in RETRO haben eine unerwartete Auswirkung auf die Artenzusammensetzung im Ozean. Sie schaffen Bedingungen, die Cyanobakterien gegenüber anderen Phytoplanktonarten in großem Maßstab begünstigen. Dies wurde auf unserer  Erde noch nie beobachtet. Der weltweit dominierende biologische Produzent von pflanzlicher Biomasse ist Phytoplankton. Es kann seinen Stickstoffbedarf ausschließlich aus gelöstem Nitrat beziehen. Nur einige spezialisierte Arten von Phytoplankton, Cyanobakterien, sind von der Nitratversorgung unabhängig, da sie elementaren Stickstoff binden können. Auf unserer Erde werden Cyanobakterien fast überall von den meisten Phytoplanktonarten verdrängt und tragen nur mit wenigen Prozent zur Bildung von Biomasse bei. Im Gegensatz dazu dominieren in RETRO Cyanobakterien im nördlichen Indischen Ozean. Im Indischen Ozean führt starker Auftrieb am Äquator zu einem Anstieg der biologischen Produktion. Ein Absinken dieser Biomasse und eine anschließende Remineralisierung führt zu hohem Sauerstoffverbrauch in der Tiefe. Die spezielle Beckengeometrie des Indischen Ozeans mit einer nördlichen Landmasse und der daraus resultierenden Ozeanzirkulation führen zu schlechter Belüftung der tieferen Schichten und zur Bildung einer ausgedehnten Sauerstoffminimumzone (OMZ, Abb. 3). Sauerstoffminimumzonen sind der einzige Lebensraum für Mikroorganismen, die anstatt von Sauerstoff Nitrat verbrauchen, um Biomasse  abzubauen. Hierbei setzen sie  Phosphat frei. Der Auftrieb dieses phosphatreichen und nitratarmen Wassers im nördlichen Indischen Ozean schafft günstige Wachstumsbedingungen für Cyanobakterien. So bedingt die Umkehrung der Erdrotation eine Artenzusammensetzung mit einer Vorherrschaft von Cyanobakterien über eine große Ozeanregion. Eine derart großflächige Dominanz dieser Algenart wurde auf unserer Erde noch nie beobachtet.

Wüsten

Auch an Land hat die Umkehr der Erdrotation Auswirkungen. Die Veränderungen der atmosphärischen und ozeanischen Zirkulation gehen einher mit einer Erwärmung und starken Austrocknung auf der windabgewandten Seite (Leeseite) der Anden über Südamerika, der nordchinesischen Tiefebene in Ostasien und der Ost-Südostküste der USA. Südbrasilien und Argentinien werden zu den größten Wüsten der Erde und die Südstaaten der USA durchlaufen einen dramatischen Klimawandel, von einem feuchten Klima zu einem Klima vollkommener Trockenheit. Im Gegensatz dazu wird das Klima in Nordafrika und in Südwestasien in RETRO kühler und feuchter, die Sahara und die arabische Wüste ergrünen (Abb. 4). Eine der bedeutendsten Veränderungen ist der vollständige Austausch des breiten Wüstengürtels von Westafrika bis zum Nahen Osten in CNTRL durch ein Gebiet mit deutlich gemäßigterem, feuchterem Klima in RETRO. Im Allgemeinen werden in RETRO viele Trockengebiete simuliert, extreme Wüsten — wie die heutige Sahara — sind jedoch weit weniger verbreitet.

Referenz

[1] V. Kamphuis, S. E. Huisman, and H. A. Dijkstra: The global ocean circulation on a retrograde rotating earth, Climate of the Past, 2011, doi: 10.5194/cp-7-487-2011.

Kontakt

Dr. Florian Ziemen
Max-Planck-Institut für Meteorologie
Tel.: 040 41173 136
E-Mail: florian.ziemen@we dont want spammpimet.mpg.de

Uwe Mikolajewicz
Max-Planck-Institut für Meteorologie
Tel.: 040 41173 243
E-Mail: uwe.mikolajewicz@we dont want spammpimet.mpg.de

Dr. Marie-Luise Kapsch
Max-Planck-Institut für Meteorologie
Tel.: +49 40 41173 181
E-Mail: marie-luise.kapsch@we dont want spammpimet.mpg.de